Wieder voll da!

Wer unter der Woche hart arbeitet, der verschafft sich am Wochenende Ablenkung und Entspannung. Früher ging das nur in der Kneipe. Zum Beispiel beim Frühschoppen, wo es die Männer meiner Familie sonntags vor dem Mittagessen hinzog.

Mein Oppa mütterlicherseits suchte eine Gaststätte in der Nähe des Rathauses auf, deren offiziellen Namen ich vergessen habe. Mein Oppa nannte sie nur nach dem Namen des Betreibers, nämlich »Hasselkuss«. Vielleicht hieß es auch einfach nur »Haus Hasselkuss«, denn originelle Namen für Kneipen kamen erst sehr viel später in Mode.

Unter der Woche durfte ich manchmal mitgehen, wenn mein Oppa sein Flaschenbier dort besorgte. Hasselkuss lag näher am Rathaus als die nächste Selterbude, außerdem konnte man hier ein, zwei Gezapfte kippen, während man auf die Flaschen wartete. Oppa stellte dann einen Fuß auf die Leiste am unteren Ende des Tresens und redete mit dem Mann dahinter, der seinen Haarschnitt direkt aus dem Krieg mitgebracht hatte. »Bürstenschnitt« nannte man so was ganz richtig, und man hätte Schuhe mit der Oberseite nach unten über diese Bürste ziehen können und die wären blitzeblank gewesen. Wahrscheinlich hätte man auch Biergläser auf diesen Borsten abstellen können und wäre damit bei »Wetten dass« groß rausgekommen, aber die Sendung gab es damals noch nicht, und bei »3 x 9« war so was nicht gefragt.

Mein Oppa väterlicherseits war regelmäßiger Gast im »Haus Walburg« an der Poststraße. Im Hinterzimmer soll er mit seinem Männergesangsverein geprobt haben. Da er starb, als ich etwa anderthalb Jahre alt war, habe ich ihn hier aber nie in Aktion erlebt.

Im Haus Walburg drehte aber wohl mein Onkel schwer auf. Den lernte ich später als eher ruhigen Vertreter kennen, der mit mir im Wohnzimmer Fußball spielte und es auf seine Kappe nahm, wenn ich eine Vase aus der Schrankwand schoss. Im Haus Walburg soll er das eine oder andere Mal in eine handfeste Hauerei verwickelt gewesen sein. Lange, lange nach seinem Tod traf ich den ehemaligen Wirt, der auf meine Frage nur kurz die Augen niederschlug und mit typischer Wirtsdiskretion sagte: »Ja, Ihr Onkel hat hier verkehrt.«

In die maskuline Welt des Frühschoppens tauchte ich irgendwann Anfang der Siebziger mit meinem Vater ein, denn manchmal nahm er mich mit.

Anfangs ging es zum »Kachelofen«, in eine Kneipe an der Brückstraße, wo ein ebensolcher stand oder mal gestanden hatte, denn ich kann mich nur an den Namen erinnern, nicht aber an das Lokal und den Ofen. Unterwegs kamen wir an einem Spielsalon vorbei, noch heute ein beliebter Billard- und Automatensalon, und mein Vater sagte: »Da schmeißen die Verrückten ihr Geld zum Fenster raus!« Ich nahm das wörtlich. Ich dachte, so wie der Normalbürger zum Schwimmen ins Stadtbad ging, fand sich der Verrückte in diesem Spielsalon ein, stellte sich ans Fenster und warf sein Geld hinaus. Ich begriff nur nicht, wieso wir nicht einfach mal stehen blieben, um das Geld einzusammeln.

Eine Zeit lang ging es zum »Fridolin« am Westring, gleich neben dem Frisiersalon, in dem mir in unregelmäßigen Abständen ein kleingewachsener Mann in einem weißen Kittel mit schwarzem Kragen die Haare schnitt, wobei ich immer Angst hatte, er säbelt mir ins Ohr, nachdem ihm das tatsächlich einmal passiert war. Der »Fridolin«, benannt natürlich nach seinem Wirt, kam mir also wie ein sicherer Hafen vor, da nebenan der Blutfriseur, der Ohrenschnibbler lauerte und wir uns quasi nur in letzter Sekunde in die warme, dunkle Heimstatt mit der langen Theke flüchteten.

Dann aber hieß es irgendwann nur noch »Ich geh in' Schrebbergarten«, und damit war das Vereinslokal des Kleingartenvereins Engelsburg e.V. gemeint, obwohl meine Eltern mit dem Schrebern anfangs noch gar nichts am Hut hatten. Das Lokal lag mitten in der Anlage. Papa parkte den weißen Ford Granada, der auch als Geschäftsauto für seine kleine Elektroinstallationsfirma diente und deshalb immer voller Werkzeug und Material war, am Ascheplatz von Germania Bochum, und dann schritten wir durch ein hohes Tor, an dem oben ein Schild mit dem Namen der Gartenanlage angebracht war. Wir gingen an halbhohen, sauber geschnittenen Hecken, hinter denen unterschiedlich sorgsam gepflegte Gärten lagen, vorbei und mein Vater grüßte über die Hecken hinweg Männer, die ich nicht sehen konnte.

Hinter der Kneipe war eine betonierte, rot gestrichene Tanzfläche, auf der wir Kinder Fußball spielten, während unsere Väter am Tresen standen und knobelten. Zwischendurch gingen wir rein, bekamen eine Fanta oder einen Apfelsaft in einem Glas mit der Aufschrift »Schlör« und sahen den Männern beim Trinken, Reden, Rauchen und Lachen zu.

Da war zum Beispiel Murmann, ein großgewachsener, übergewichtiger Mann, der bei meinem Vater in der Firma als Monteur arbeitete. Er stand in dem Ruf, den bei uns sehr beliebten Spruch »Wer saufen kann, der kann auch arbeiten« besonders ernst zu nehmen. Einmal setzte mein Vater ihn morgens an einer Baustelle ab und trug ihm auf, in dem im Entstehen begriffenen Einfamilienhaus mit dem Verkabeln zu beginnen, er werde dann am Nachmittag dazustoßen. Als mein Vater gegen vierzehn Uhr ankam, war Murmann mit dem Verkabeln komplett durch - und auf den Stufen des Rohbaus standen zwei Dutzend leere Flaschen Kabänes, ein Kräuterlikör der halbbitteren Art.

Murmann trug auch am Wochenende Arbeitsklamotten, etwa eine blaue Latzhose, in der am rechten Bein ein Zollstock in einer schmalen Tasche steckte. »Ey, Murmann, watt willz denn damit ausmessen, am Sonntach?«, wurde er dann schon mal gefragt und gab dann etwas zurück wie: »Damit mess ich aus, wie bekloppt du biss!« Ein anderer: »Meinze zwo Meter reichen dafür aus? Der is doch bekloppt bis Castrop!«

Ich erinnere mich noch, dass Murmann mal eine Art Wendeplakette trug, die auf beiden Seiten beschriftet war. Die eine Seite war rot und forderte Mitmenschen dazu auf, Murmann jetzt bitte in Ruhe zu lassen. Die genaue Formulierung habe ich vergessen. Tatsächlich stand er dann auch stumm und einsam mitten im Getümmel und trank ernst und entrückt sein Bier. Die andere Seite war grün und in weißen Lettern stand drauf zu lesen: »Bin wieder voll da!« Trug Murmann grün, war er kommunikativ und gesprächig.

Ich selber war später nicht so sehr der Typ für den Frühschoppen, da ich in meinen Zwanzigern meist erst gegen Sonnenaufgang von irgendwelchen Partys oder aus dem »Macao« kam, und ein paar Stunden später schon weiterzu-saufen, dafür arbeitete ich unter der Woche einfach nicht hart genug.

 

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